Eine kleine Geschichte der Zeit

 

 

 

Nach dem Fall er der ersten Ordnung kamen Wesen in die Welt, die nicht zu teilen imstande waren. Wesen, die die naturgegebene Ordnung nicht akzeptieren wollten, deren einziges Bestreben es war, viele andere zu unterjochen und sich von deren Energie zu nähren. Eine neue Ordnung wurde geschaffen. Sie basierte auf Macht, Verführung und Blendwerk.

Die alte Ordnung mag dem heutigen Menschen grausam anmuten, doch sie war natürlich gewesen. Sie erlaubte dem Menschen, im Einklang mit der großen Mutter und ihren Gesetzen zu leben. Gab es zu wenig Nahrung, starben Menschen. Gab Stürme, Fluten, Dürren, Erdbeben, Vulkanausbrüche, wurden Ernten vernichtet oder das Wild vertrieben, starben Menschen. Doch die wenigsten Menschen starben, weil sie von anderen Menschen erschlagen wurden. So selten wie heute der Wolf den Wolf reißt, so selten, wie der Löwe den Löwen tötet, so selten wie der Hirschbock den Hirschbock erschlägt, so selten tötete der Mensch den Menschen zu jener Zeit.

Mit der neuen Ordnung glaubten viele Menschen, die Gesetze der großen Mutter umgehen, ja, sie sogar außer Kraft setzen zu können. Die Götter, die Inbegriff und Stadthalter dieser Gesetze waren, wurden nunmehr von ausgewählten Menschen interpretiert: Es bildete sich eine Kaste, die für sich in Anspruch nahm, zu wissen, was die Götter wollen. Sie verdummte das Volk nach und nach, und wo einst jedes Lebewesen die Götter gehört und zu ihnen gesprochen hatte, vergaßen die meisten unter den Menschen diese ihre natürliche Fähigkeit. Vor allem jene, die sich den Gesetzen immer schon unwillig gebeugt hatten, überließen es gerne anderen, mit den Göttern zu sprechen, oder sie machten sich gar zu solchen, die vorgaben, mit den Göttern sprechen zu können. Auserwählte wurden in Künsten ausgebildet, die eigentlich gar keine Künste waren, doch eben deshalb galten sie dem Volk bald als Weise und bekamen immer mehr Macht.

Verführt von dieser Macht, die nicht mehr das Ziel hatte, die Sippe zu schützen, sondern sich selbst zu mehren, sanken die Menschen einmal mehr in die Polarität. Es bildeten sich Machtstrukturen, die in Opposition zueinander standen. Da aber alle die gleichen Fähigkeiten und Kräfte hatten, und die Götter sich nicht wirklich der einen oder anderen Seite gewogen zeigten, wurde der Machtkampf der Menschen aus der metaphysischen Ebene in die physische Ebene gezogen. Es wurden Horden gebildet, wie sie zuvor weder benötigt worden waren noch hätten unterhalten werden können. Horden, deren einziger Sinn darin bestand, andere Sippen und Stämme anzugreifen und zu entmenschen. Die Männer und Frauen dieser Horden bestellten nicht mehr die Äcker, gingen nicht mehr auf Jagd, versorgten nicht mehr das Heim und stillten nicht mehr ihre Kinder, sondern sie zogen in die Welt, um ihresgleichen zu jagen und zu töten.

Versprochen wurde ihnen, daß sie das Land jener erhalten sollten, die sie zuvor getötet hatten. Versprochen wurde ihnen, daß sie fortan vom Zorn der Götter verschont bleiben würden, und daß die ewigen Gesetze der Mutter nicht mehr gelten sollten. Versprochen wurde es ihnen von denen, die bereits der Dunkelheit verfallen waren, die die neuen Wesen mit in diese Welt gebracht hatten.

In grauer Vorzeit, noch vor den Tagen vom untergegangenen Kontinent, kam diese neue Ordnung in die Welt.

Die Welt änderte sich.

In den Tagen der ersten Ordnung hätte es viele Fähigkeiten nicht gebraucht, so zum Beispiel bestanden die Sippen, Stämme, Clans und Gemeinschaften aus Menschen, die den Boden bestellten und das Vieh versorgten und aus solchen, die dem Wild nachgingen, Bauern und Jäger. Manche Sippen lebten allein von der Jagd, und sie zogen mit den Wildherden durch das Land. Andere wurden seßhaft, bauten feste Hütten und lebten von den Erträgen, die der Boden gab.

Krieger hatte es bis dahin nicht gebraucht.

Nach dem Fall der ersten Ordnung jedoch änderte sich das. Mehr und mehr solcher Horden zogen durch die Welt, und verblendet von den Versprechen ihrer Führer mordeten sie, wo immer sie auf andere Menschen trafen. Zunächst mit großem Erfolg: War der Mensch doch nicht gewohnt, von seinesgleichen angegriffen und an Leib und Leben bedroht zu werden. Doch nach und nach begannen Einzelne, sich zu wehren. Nach und nach begannen Einzelne, den Umgang mit ihren Jagdwaffen zu trainieren, begannen, effizientere Techniken und Werkzeuge zu entwickeln, um der Bedrohung Herr zu werden. Und irgendwann, in grauer Vorzeit, waren es ein, zwei oder drei solcher Krieger, die einen Angriff einer kleineren Horde zunichte machten, ja, die diesen unformierten Haufen restlos aufrieben. Dies war ein Signal für die Evolution, und das Beispiel machte Schule. Ferne Sippen schickten einige Söhne zu diesen Kriegern, auf daß diese sie ausbildeten in der Kunst des Kampfes gegen den gefährlichsten Feind des Menschen, und Mensch wäre nicht Mensch gewesen, wenn nicht auch die Gegenseite angefangen hätte, ihrerseits Krieger auszubilden.

Und bald standen Mensch gegen Mensch, Krieger gegen Krieger, und eine beispiellose Entwicklung hielt Einzug in die Welt, eine Entwicklung, die heute noch anhält.

Die ältesten Seelen jener Krieger aber, die einst nur versucht hatten, ihre Sippe zu schützen, wissen heute, daß sie nicht besser sind als jene, die den Angriff brachten. Denn während der Bauer das Land bestellt, um Nahrung zu erzeugen, und Jäger das Wild tötet, um Nahrung zu erzeugen, war der Krieger bereit, Menschen zu töten, um selbst am Leben zu bleiben und die Seinen zu schützen. Und er wußte von Anfang an, daß keine Skrupel in seinem Herzen wohnen durften, er wußte, daß er allein das Werkzeug war, welches dem einen Schutz und dem anderen Tod brachte. Er mußte mit sich, seinen Zielen und seiner Loyalität im Reinen sein, er mußte mehr als alle anderen Menschen einen festen Glauben und ein unerschütterliches Ziel haben, denn immerhin war er bereit, den Tod zu bringen wie auch zu ertragen. Auch der Krieger war – ohne daß er das angestrebt hatte – zu einem Stadthalter der großen Mutter geworden. Und es war, als wäre mit dem Krieger ein neues, kosmisches Gesetz in die Welt gekommen, ein Gesetz, das man vorher nicht benötigt hatte. Der Krieger wurde, wie jene, die angaben mit den Göttern zu sprechen, eine Macht.

Und damit eine leichte Beute für die dunkle Wesenheit, die in die Welt gekommen war: Immer in Gefahr, verführt und geblendet zu werden, immer mehr im Zweifel um die Ziele, für die es sich zu kämpfen lohnt, und ob es sich überhaupt lohnt, zu kämpfen. Oh, ich erinnere mich an viele, viele peinigende Momente der Erkenntnis, der Erkenntnis darüber, daß so viele sich haben verführen lassen, selbst von denen, die einst als Schützer und Nährer den Weg des Kriegers begannen, und sich heute schämen, selbst dem verfallen gewesen zu sein, dessen Auswüchse sie einst bekämpfen wollten.

Ejnar (der Mondwolf )

 

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